„Der Blinde“
Ich möchte Ihnen kurz von einer sehr wertvollen und bereichernden Begegnung aus meinem Leben berichten, welche sich noch zur Zeit meiner Ausbildung als Krankenschwester ereignete. Beim abendlichen Rundgang auf Station traf ich auf einen sehr traurigen und in sich gekehrt wirkenden Mann, der teilnahmslos auf seinem Bett saß. In der Hoffnung, ihn etwas aufmuntern zu können, bot ich ihm an, den Fernseher einzuschalten oder eine Zeitschrift zu bringen. Was ich zu dieser Zeit noch nicht wusste war, dass der Mann so gut wie nichts mehr sehen konnte. Lediglich Schatten waren noch sichtbar, ansonsten war es in seinem Leben sehr dunkel geworden. Er gab mir zur Antwort, dass er das sehr gerne tun würde, wenn er es noch könne. Peinlich berührt, ihn so mit dem konfrontiert zu haben, was gerade sein ganzes Leben veränderte, setzte ich mich zu ihm. Ich entschuldigte mich für mein Unwissen und fing an, mich für ihn und sein Schicksal zu interessieren. Seine Welt wurde aufgrund einer degenerativen Erkrankung immer dunkler, was nicht zuletzt auch sein Augenlicht betraf. In meinem Dienst nahm ich mir fortan auch immer etwas Zeit für ihn, um mich mit ihm zu unterhalten. Dabei galt ihm mein tiefster Respekt, seine Welt so anzupassen, was für die meisten von uns unvorstellbar ist. So würden wahrscheinlich die meisten Menschen ihr Augenlicht als wichtigsten Sinneskanal benennen. Auch ich hätte es vorher getan. Wenn ich ins Zimmer kam, erkannte er mich schon am Schritt, an meiner Stimme und nannte mich immer „mein Engel“, da die weiße Kleidung und meine langen blonden Haare ihn daran erinnerten.
Drei Jahre später lief ich mit einer Freundin durch die Stadt; wir unterhielten uns, bis ich plötzlich direkt neben mir jemanden sagen hörte: „da ist mein Engel“. Ich als „Sehende“ habe ihn direkt neben mir stehend nicht wahrgenommen. Ich hätte diesen wundervollen Moment verpasst.